Bahnbrechendes EuGH-Urteil – Ende der einseitigen Festlegung langer Zahlungsfristen?
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) setzt klare Grenzen im B2B-Bereich: Zahlungsfristen von mehr als 60 Tagen müssen von beiden Parteien vereinbart werden. Dieses neue Urteil ist ein wichtiger Hinweis für Unternehmen, die Ausschreibungsverträge, Beitrittsverträge oder Vereinbarungen mit großen Geschäftspartnern abschließen.
In seinem jüngsten Urteil erinnert der EuGH daran, dass die Regeln für Zahlungsfristen Gläubiger schützen müssen – insbesondere in Beziehungen, in denen eine Partei eine stärkere Position einnimt. Gemäß der Auslegung der EU-Vorschriften kann eine Zahlungsfrist von mehr als 60 Tagen nicht einseitig vom Schuldner festgelegt werden – selbst wenn sie formal im Vertrag enthalten ist.
Obwohl das Urteil bereits vor einiger Zeit ergangen ist, wird seine praktische Bedeutung für Unternehmer heute immer deutlicher – insbesondere bei der Bewertung bestehender Handelsverträge. Das Urteil stärkt die Position der Gläubiger und stellt eine erhebliche Einschränkung für marktbeherrschende Auftragnehmer dar, die ihren Vorteil bei der Festlegung von Zahlungsbedingungen missbraucht haben.
In diesem Artikel:
Sachverhalt des Falles
Der Streit betraf die Beziehung zwischen zwei polnischen Unternehmen: einem Bergbauunternehmen (P.), das Verträge im Rahmen von Ausschreibungen und Auktionen abschloss, und einem Lieferanten von Bergbaugeräten (A.). Alle Verträge sahen eine Zahlungsfrist von 120 Tagen vor, die einseitig vom Auftraggeber festgelegt wurde.
Der Lieferant (Unternehmen A.) reichte Klage ein und forderte die Zahlung von Verzugszinsen sowie eine Entschädigung für die Kosten der Forderungseintreibung, da die auferlegte Frist nicht die Voraussetzungen einer „ausdrücklichen Vereinbarung“ gemäß Artikel 3 Absatz 5 der Richtlinie 2011/7/EU erfülle.
Vorabfrage: ist eine einseitige Vertragsklausel ausreichend?
Das nationale Gericht fragte den EuGH:
„Ist Artikel 3 Absatz 5 der Richtlinie [2011/7] dahin auszulegen, dass eine ausdrückliche Vereinbarung zwischen Unternehmern über eine Zahlungsfrist von mehr als 60 Tagen nur für Verträge gilt, deren Vertragsbedingungen nicht ausschließlich von einer der Vertragsparteien festgelegt werden?“
Antwort des EuGH: die Zustimmung der Parteien muss realistisch und bewusst sein
Der Gerichtshof stellte eindeutig fest, dass:
Eine Vertragsklausel, die eine Zahlungsfrist von mehr als 60 Tagen vorsieht, nicht einseitig vom Schuldner festgelegt werden kann.
Ausnahmen sind Situationen, in denen:
- aus den Dokumenten hervorgeht, dass beide Parteien tatsächlich und wissentlich vereinbart haben, an eine solche Bestimmung gebunden zu sein,
- diese Bedingung im Vertrag deutlich hervorgehoben wurde – sie darf nicht versteckt oder aus dem Kontext abgeleitet werden,
- sie nicht zu einer groben Ungerechtigkeit gegenüber dem Gläubiger führt.
Der Gerichtshof betonte, dass eine einvernehmliche Festlegung nicht das Ergebnis individueller Verhandlungen sein muss, aber auch nicht das Ergebnis stillschweigender Zustimmung oder einer von der stärkeren Partei auferlegten Norm sein kann. Insbesondere muss die verlängerte Zahlungsfrist eindeutig als Ausnahme von der 60-Tage-Regel gekennzeichnet sein.
Beitrittsverträge – im Fokus des Urteils
Das Urteil hat besondere Bedeutung für sogenannte Beitrittsverträge – also solche, bei denen die Bedingungen von einer Partei vorgegeben werden und die andere sie nur akzeptieren oder ablehnen kann. Dies ist typisch für Ausschreibungen, Verträge mit großen Konzernen oder Unternehmen des öffentlichen Sektors.
Der EuGH stellte eindeutig fest, dass die Form eines Beitrittsvertrags die Möglichkeit einer ausdrücklichen Vereinbarung über eine Frist von mehr als 60 Tagen nicht ausschließt, jedoch nur dann, wenn:
- die Bedingung klar formuliert ist,
- sie eine Abweichung vom Standard darstellt und
- sie wissentlich und nicht „nebenbei“ akzeptiert wurd.
Folgen des EuGH-Urteils für Unternehmer
1. Einseitige Verträge reichen nicht aus
In der Praxis zwingen viele Unternehmen – insbesondere große Marktteilnehmer – ihren Vertragspartnern Vertragvorlagen mit verlängerten Zahlungsfristen auf. Das EuGH-Urteil zeigt deutlich, dass solche Bestimmungen nicht wirksam sind, wenn sie nicht realistisch und bewusst von beiden Parteien vereinbart wurden.
2. Möglichkeit, Ansprüche geltend zu machen
Wenn die Zahlungsfrist 60 Tage überschreitet und nicht ausdrücklich vereinbart wurde, kann der Gläubiger:
- gesetzliche Verzugszinsen ab dem 61. Tag berechnen,
- eine Entschädigung für die Kosten der Forderungseintreibung verlangen – gemäß dem Gesetz zur Bekämpfung von Zahlungsverzug: 40, 70 oder 100 EUR, je nach Rechnungswert,
- eine längere Zahlungsfrist als unvereinbar mit den EU-Vorschriften anfechten.
3. Überarbeitung bestehender Verträge
Unternehmen, die Verträge einseitig abgeschlossen haben (ohne echte Verhandlungsmöglichkeiten), sollten deren erneute Analyse in Betracht ziehen. Wenn das Risiko besteht, dass eine 90- oder 120-Tage-Frist ohne Zustimmung des Gläubigers auferlegt wurde, kann dies eine Grundlage für Neuverhandlungen oder einen Rechtsstreit sein. In solchen Fällen ist es ratsam, die Rechtsberatung von getsix® in Anspruch zu nehmen, um sicherzustellen, dass die Vertragsbedingungen den geltenden Vorschriften und der EuGH-Rechtsprechung entsprechen.
Wie kann man die Interessen des Unternehmens schützen?
Um rechtliche und finanzielle Risiken zu vermeiden, ist es sinnvoll:
- die Transparenz der Vertragsbedingungen zu gewährleisten, insbesondere in Bezug auf Zahlungsbedingungen,
- die Annahme von nicht standardmäßigen Bedingungen zu bestätigen – vorzugsweise mit einer separaten Unterschrift oder in einem separaten Absatz des Vertrags,
- Vorlagen zu vermeiden, die eindeutig das Gleichgewicht der Vertragsparteien verletzen – z. B. durch die automatische Festlegung von Fristen ohne Begründung.
Das EuGH-Urteil legt einen bestimmten Rahmen fest: 60 Tage sind der Standard, und jede Verlängerung dieser Frist muss:
- ausdrücklich vereinbart,
- bewusst akzeptiert
- und für den Gläubiger fair sein.
Dies ist eine entscheidende Information für Unternehmen, die im B2B-Sektor tätig sind, insbesondere bei der Zusammenarbeit mit großen Vertragspartnern oder im Rahmen von Ausschreibungsverfahren. Die Gleichstellung der Vertragsparteien ist nicht nur ein Grundsatz – sie ist nun eine konkrete Anforderung des EU-Rechts.
Rechtsgrundlage:
- Gesetz vom 8. März 2013 zur Bekämpfung übermäßiger Zahlungsrückstände im Geschäftsverkehr
- Rechtssache C-677/22: Vorlage zur Vorabentscheidung durch das Sąd Rejonowy Katowice – Wschód w Katowicach (Polen) vom 2. November 2022 – Przedsiębiorstwo Produkcyjno-Handlowo-Usługowe A. gegen P. S.A.
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