Haftung von Vorstandsmitgliedern für Steuerrückstände von Unternehmen in Polen – wichtige Urteile des EuGH
Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat sich erneut mit der Frage der gesamtschuldnerischen Haftung von Vorstandsmitgliedern für Steuerrückstände von Unternehmen in Polen befasst. In seinem Urteil vom 30. April 2025 in der Rechtssache C-278/24 (Genzyński) hat der Gerichtshof seine weniger als zwei Monate zuvor in seinem Urteil vom 27. Februar 2025 in der Rechtssache C-277/24 (Adjak) vertretene Position ergänzt und weiterentwickelt.
Beide Entscheidungen bilden eine einheitliche Rechtsprechung, die bestimmte Elemente der polnischen Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit im Bereich der Haftung von Personen in Führungspositionen in Frage stellt. Der EuGH weist nicht nur auf die Notwendigkeit hin, echte Verfahrensgarantien zu gewährleisten, sondern betont auch, dass die Haftung von Vorstandsmitgliedern nicht rein formaler oder automatischer Natur sein darf.
In diesem Artikel:
Die wichtigsten Mängel des geltenden Modells
Der Mechanismus der gesamtschuldnerischen Haftung von Vorstandsmitgliedern – geregelt in Artikel 116 der polnischen Abgabenordnung (Ordynacja podatkowa) – wirft seit Jahren ernsthafte Auslegungsprobleme auf.
In der Praxis kann die Haftung des Vorstands für Steuerrückstände der Gesellschaft in folgenden Fällen festgestellt werden:
- das Unternehmen Fehler bei seinen Steuererklärungen begangen hat,
- die Vollstreckung gegenüber dem Unternehmensvermögen ganz oder teilweise erfolglos war,
- das Vorstandsmitglied nicht rechtzeitig einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt hat.
Zentrale Zweifel bestehen jedoch darin, dass die Vorstandsmitglieder keine Möglichkeit haben, an dem gegen die Gesellschaft geführten Steuerverfahren zur Feststellung ihrer Verbindlichkeiten teilzunehmen oder die Feststellungen der Steuerbehörden anzufechten – obwohl gerade diese Feststellungen die Grundlage für ihre Haftung bilden. Die Entscheidung gegenüber dem Unternehmen wird für sie zu einer verbindlichen Vorentscheidung, und sie selbst sind in der Praxis ihres Rechts auf Verteidigung beraubt.
Darüber hinaus sieht das derzeitige polnische Recht keine wirksamen Mechanismen zur Berücksichtigung von Gutgläubigkeit oder ordnungsgemäßem Verhalten (Due Diligence) des Vorstandsmitglieds vor. Die Haftung wird häufig nahezu automatisch festgestellt, ohne dass eine echte Analyse seines Verhaltens oder seines Einflusses auf die finanzielle Lage der Gesellschaft vorgenommen wird. Dabei ist diese Haftung vermögensrechtlicher Natur und kann das private Vermögen des Vorstandsmitglieds betreffen. Darüber hinaus erwarten die Steuerbehörden die Einreichung eines Insolvenzantrags, selbst wenn dies formal unmöglich ist – z. B. wenn das Unternehmen nur einen Gläubiger hat, was in der Praxis zu einer Ungleichbehandlung von Vorstandsmitgliedern führt.
Vorlagefragen an den EuGH
Die oben genannten Lücken und Formalitäten haben das Woiwodschaftsverwaltungsgericht in Breslau (Wrocław, Polen) dazu veranlasst, dem Gerichtshof der Europäischen Union in den Rechtssachen C-277/24 (Adjak) und C-278/24 (Genzyński) Vorabentscheidungsfragen vorzulegen. Die Zweifel betrafen vor allem die Vereinbarkeit des polnischen Haftungsmodells mit den EU-Standards zum Schutz der Rechte des Einzelnen – insbesondere dem Recht auf Verteidigung und Gleichbehandlung.
Unter anderem wurden die mangelnde tatsächliche Beteiligung eines Vorstandsmitglieds am Verfahren, die Unmöglichkeit, die gegenüber der Gesellschaft getroffenen Feststellungen anzufechten, sowie zu enge und starre Haftungsausschlusskriterien beanstandet. Der EuGH hat in seiner Antwort auf diese Fragen eindeutig festgestellt, dass das in Polen geltende Modell geändert werden muss, da es den Vorstandsmitgliedern keine angemessenen Verfahrensgarantien gemäß EU-Recht gewährt.
Urteile des EuGH
Im Urteil vom 27. Februar 2025 (C-277/24, Adjak) stellte der EuGH fest, dass die polnischen Vorschriften gegen EU-Verfahrensstandards verstoßen, da sie Vorstandsmitgliedern nicht das Recht auf eine wirksame Verteidigung garantieren. Der Gerichtshof betonte, dass eine Person, die für die Rückstände eines Unternehmens haftbar gemacht wird, die Möglichkeit haben muss, die zuvor gegenüber diesem Unternehmen getroffenen Feststellungen anzufechten und Zugang zu den Steuerakten zu erhalten.
Im Urteil vom 30. April 2025 (C-278/24, Genzyński) bestätigte der EuGH, dass der Mechanismus der gesamtschuldnerischen Haftung von Vorstandsmitgliedern für Steuerrückstände an sich nicht gegen EU-Recht verstößt. Die Anwendung dieses Mechanismus muss jedoch die individuellen Umstände des jeweiligen Vorstandsmitglieds berücksichtigen. Die Haftung kann sich nur auf diejenigen Rückstände beziehen, deren Vollstreckung gegenüber der Gesellschaft erfolglos war. Ein Vorstandsmitglied sollte die Möglichkeit haben, sich von dieser Haftung zu befreien, wenn es nachweist, dass es rechtzeitig einen Insolvenzantrag gestellt hat oder dass die Nichtstellung des Antrags nicht auf sein Verschulden zurückzuführen ist – insbesondere wenn es bei der Führung der Geschäfte der Gesellschaft die erforderliche Sorgfalt walten ließ. Zudem stellte der EuGH klar, dass die Tatsache, dass das polnische Finanzamt (der Staatsschatz) der einzige Gläubiger war, nicht als ausreichender Grund für die Nichtstellung des Insolvenzantrags angesehen werden kann.
Beide Urteile bilden zusammen einen neuen Auslegungsstandard, der sowohl von den Steuerbehörden als auch von den Verwaltungsgerichten anzuwenden ist und eine Abkehr von der bisherigen, zu formalistischen Herangehensweise erzwingt.
Was bedeuten diese Urteile für Vorstandsmitglieder in Polen?
Die EuGH-Urteile haben praktische Bedeutung für Personen, die Führungsaufgaben in Kapitalgesellschaften wahrnehmen. Vor allem liefern sie konkrete Verteidigungsinstrumente in laufenden Verfahren zur Durchsetzung steuerlicher Haftung. Vorstandsmitglieder können sich nun nicht nur auf gebotene Sorgfalt (Due Diligence) berufen, sondern auch den Zugang zu Verfahrensakten des Unternehmens verlangen und frühere Feststellungen anfechten. Dadurch erhöhen sich die Chancen, persönliche Haftung zu vermeiden – insbesondere wenn sie nachweisen können, dass sie in gutem Glauben und verantwortungsvoll gehandelt haben.
Die Urteile in den Rechtssachen Adjak und Genzyński sind wichtiger Schritt zur Verbesserung des Rechtsschutzes von Vorstandsmitgliedern in Polen. Der EuGH hat nicht nur auf systemische Mängel in der bisherigen polnischen Praxis hingewiesen, sondern auch klare Standards vorschlagen, die nun in das polnische Rechtssystem implementiert werden sollten. Für Unternehmer und Führungskräfte bedeutet dies, dass sie sich ihrer Rechte besser bewusst sein und laufende Verfahren aufmerksam verfolgen müssen. Gleichzeitig ist dies ein wichtiges Signal an die Steuerbehörden und Verwaltungsgerichte, dass Formalismus keine Ersatz für eine echte Beurteilung der individuellen Umstände sein darf. Nach den jüngsten Urteilen kann die Haftung eines Vorstandsmitglieds nicht automatisch festgestellt werden, sondern muss auf einem fairen und transparenten Verfahren beruhen, das den Standards des EU-Rechts entspricht.
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